Montag, 15. Dezember 2014

Der Greis und sein Tong: Ein Pu'Er-Roman (ongoing)



1. Kapitel

Wir schreiben das Jahr 1960. Es ist bereits wieder Frühling, als unsere Geschichte beginnt.
Die Sonne scheint schon beachtlich auf eine Ameisenstrasse durch die Lupe des Dorflümmels Wu,
als unser Held, der auf den beschwingten Namen Wong Fei Dung hört, zu leicht geworden ist für seine Arbeit. 

Vom Leben gezeichnet, wurde er in seinen alten Tagen zu einem dünnen Sprenzel.
Aber er sollte noch viel älter werden. Als die anderen Mitarbeiter bemerken, wie Wong zu hüpfen beginnt, damit der Pu Erh endlich gepresst wird, wird er noch am selben Morgen unehrenhaft in den Ruhestand befördert, denn mit Hüpfen wird er nicht mehr schön rund. Dabei war er sein ganzes Leben so gerne Pu Erh Presser gewesen, und nun plötzlich, das Aus. Er kehrt langsam zu seiner einsamen Hütte in dem fast schon steilen Berghang zurück, wohin er sonst stets erst gegen Abend heimkehrte, aber, was soll er denn da jetzt überhaupt noch? Etwas unterhalb seines Hauses erstreckt sich ein malerischer Wald, wo mitunter auch wilde Teebäume wachsen, und über den Wipfeln die Aussicht auf die umgebenden Berge. 50 Jahre hatte er dort doch etwa gearbeitet, und nun? Ein paar geheuchelte Worte des Dankes. Und das wars? Niemand konnte dabei doch seine Hüften so schwingen wie er. Worauf sollte er sich noch freuen? Die Aussicht tat ihm weh. Das Leben, wenn er dann mal wie jetzt zur Ruhe kam, tat ihm weh, ohne seine Frau. Sie war weg, und er wusste nicht wohin. Seine Kinder waren vor vielen Jahren in verschiedene Städte gezogen, und er wusste nicht einmal genau in welche. Sie schrieben ihm nicht. Schon lange nicht mehr. Und er hatte ihnen nichts mitzuteilen, was sie interessiert hätte, und ausserdem wusste er nicht einmal, ob die gesammelten Adressen überhaupt noch stimmten.

An diesem Tag wurde der Sheng nicht gepresst. Er wurde nach dem Trocknen in der Sonne lose in ein Tongefäss gesteckt, da niemand da war, um ihn zu pressen. Deckel drauf, und für viele Jahre vergessen.

Am nächsten Tag kam der neue Presser, und die übliche Produktion konnte wie
bis anhin weitergehen. Schon nach wenigen Tagen dachte niemand mehr an den alten Wong.
Aber in einer stürmischen Nacht, als der Wind durch die Balken der Häuser pfiff, und in der Ferne der Donner grollte, hatte der Betriebsleiter einen Traum. Er sah den alten Wong, nein, er sah nur Hüften kreisen, aber er wusste, dass es der alte Wong war, und er musste während dem Schlafen beinahe etwas lächeln. Doch auf ein Mal wurde ihm bewusst, wie schlecht er Wong behandelt hatte - er gehörte einfach zum Inventar, wie eine Maschine und man konnte mit ihm machen, was man wollte - er wehrte sich nie, und er beklagte sich auch nie, auch wenn er ihm den schon kärglichen Lohn nochmals gekürzt hatte. Es war nicht recht, ihn einfach so abgeschoben zu haben, jetzt, wo er zu nichts mehr taugte.

Am frühern Morgen machte sich der Betriebsleiter gleich daran, Wong aufzusuchen. Weil die Sonne
hinter wolkenverhangenem Himmel verborgen war, war der Dorflümmel Wu heute mit seiner Steinschleuder hinter den Katzen des Dorfes her. Der Betriebsleiter wusste nicht genau, wo Wongs Haus lag, nur ein ungefähre Richtung, die er von der alten Bediensteten des Teehauses erfuhr, nachdem er zuerst von Wu in eine völlig falsche Richtung geschickt worden war. Nach einem beschwerlichen Marsch fand er die weit abgelegene kleine Hütte. Da sass der alte Wong vor seiner Türe auf einem kleinen Schemel und melkte seine Ziege. Hallo Wong, sagte er.

Wong war verblüfft. So etwas hatte er schon viele Jahre nicht mehr erlebt, dass der Chef ihn anspricht, ohne ihm gleich darauf einen Befehl zu erteilen. Das letzte Mal muss das gewesen sein, als er noch ein junger Bursche
war, dachte Wong. Was war bloss aus ihm geworden?
Ich möchte ihnen meine tiefe Dankbarkeit bekunden, sie haben unserer Familie über mehrere
Generationen treu gedient, und sich auch nie etwas zu Schulden kommen lassen, sagte der
Betriebsleiter. Hier möchte ich ihnen als ganz besonderen Dank einen Anteil am Pu Erh Schatz
unserer Familie überreichen, der noch von meinem Grossvater stammt. Es war ein Song Pin 1895. Ein ganzer Tong.
Sein Geburtsjahrgang. Wong war sprachlos. Darum verabschiedete sich auch der Betriebsleiter wieder,
ohne viele Worte zu machen. Er war über die stillschweigende Reaktion Wongs etwas irritiert,
hatte aber trotzdem das Gefühl, das Richtige gemacht zu haben. Hoffentlich stirbt er nicht noch daran,
dachte der Betriebsleiter auf dem langen Weg zurück ins Dorf.

Wong sass noch eine Weile da, und schnupperte etwas am Tong.
Er wagte es nicht, ihn aufzumachen. Er ging dann mit der Ziege rüber in den Stall,
und versteckte den Tong unter viel Heu, an einer Stelle, wo er sich mit seiner Frau einst geliebt hatte.
Es juckte ihn noch immer am Hintern, wenn er daran zurückdachte.

Die Jahre zogen daraufhin ins Land.
Es geschah nicht viel, und Wong lernte still zu sein.
Seine Ziege war schon sehr alt geworden, und gab bereits seit mehreren Jahren keine Milch mehr.
Aber das störte Wong nicht.
Hin und wieder ging er mit der Ziege ins Dorf hinunter in das kleine Teehaus,
und dort hörten sie immer wieder Gerüchte aus dem Westen.
Da soll einer gelesen haben, dass man in China Tee aus Fladen trinke, und es dann mit einem
getrockneten Fladen aus den Alpen probiert haben.
Alle lachten herzlich, mussten dann aber wieder zurück an ihre Arbeit.
Nur Wong nicht. Er blieb mit seiner Ziege noch etwas im Teehaus sitzen,
dann, wenn alle wieder bei der Arbeit waren, durfte sie sich auch noch etwas
aussuchen. Meistens Kuhmilch.
Mochte es tatsächlich Langnasen geben, fragte sich Wong, die sich ernsthaft für Pu Erh interessieren?

Eines Tages kam dann eine Langnase ins Dorf.
Und die Leute staunten nicht wenig über die sonderbare Gestalt.
Er tat so, als wüsste er über alles Bescheid, und man konnte ihm die verrücktesten Sachen verkaufen.
Die Dorfältesten hielten sich zwar etwas zurück, aber amüsierten sich umso mehr im Verborgenen.
Doch Wong war von der Langnase angetan.
Und er dachte seit langer Zeit wieder an seinen Tong, den er über all die Jahre nicht angerührt hatte,
weil er sich für zu unwürdig hielt, etwas so kostbares einfach zu verschwenden, indem er es selbst
trank. Er lebte sehr kärglich, und gab sich mit dem Nötigsten zufrieden.
Wenn es tatsächlich jemanden gibt, dachte Wong, der so eine weite Reise auf sich nimmt,
nur wegen etwas Tee, dann wäre das ein würdiger Erbe.

Jahre später, als er sich besonders kräftig fühlte, suchte er dann tatsächlich nach dem Tong, und fand ihn,
noch an genau der Stelle, an der er ihn einst versteckt hatte. Seine Kinder würden nur den materiellen
Wert darin sehen, dachte er. Und früher, lange bevor er sein Abschlussgeschenk erhalten hatte, hatten sie
sich nie für seine Arbeit interessiert, darum hatte er auch später nie mit ihnen darüber gesprochen.
Mit dem Tong in der Hand schwor er sich, dass wenn die Zeit reif wäre,
und sich Langnasen um ihrer Leidenschaft für Tee zu Freunden würden,
er sich auf den Weg zu ihnen machen würde, um seinen Schatz mit ihnen zu teilen.



2. Kapitel: Aufbruch

Im Mai, zu früher Morgenstunde, drehte der Dorflümmel Wu bereits seine Runde.
Er hielt heute Ausschau nach streunenden Hunden. Da ereilte Wong die Kunde
von den wahren Pu-Freunden des Westens. Als da sprach die Ziege,
und es war das erste Mal, dass sie sprach, fertig mit dem Reimen mein guter Wong,
auf, lass uns ziehen in das ferne Land, wir haben lange genug Trübsal geblasen an diesem
Ort der Stille.

Wu flehte und bettelte, dass Wong ihn mit auf die Reise nehmen solle, ja, müsse.
Doch Wong wehrte ab – du sollst hier meine Hütte haben, gib gut auf sie acht,
ich komme schon in wenigen Jahren zurück. So hast du ein Dach über dem Kopf,
und musst nicht mehr im Hühnerstall deines Onkels schlafen, und jemand schaut zu meiner Hütte.


Wong hatte kein Geld. Er war immer in Naturalien bezahlt worden. Aber
das war ihm stets recht gewesen. Er traute dem Geld nicht. Und nun, eine Reise
mit der Bahn, oder gar in einem Flugzeug, das hätte nicht zu unserem Helden gepasst.
Er hatte doch Zeit. Er hatte längst gelernt, dass er sich des Weges zu erfreuen
hatte und nicht immer nur auf ein Ziel hinzuarbeiten hatte. Das er dann doch
meist gar nicht richtig geniessen konnte. Da riss er überraschend mit grosser Kraft ein
Stück, gerade lang genug für einen Spazierstock, aus einem grossen Teebaum.
Mit seinem rostigen Messer begann er das Holz zu schälen und zurechtzuschnitzen.
Da Wong leicht wie eine Feder geworden war, bog sich der frische Stock nicht
unter seiner Last. Alsdann nahm Wong seinen Tong mit den sieben Song Pin Sheng,
band ihn mit einem modrigen Seil auf seinen Rücken, und machte sich das erste Mal
in die andere Richtung von seinem Haus auf, nämlich hinten, den steilen Berghang hoch.

Ganz oben auf dem Gipfel, konnte er auf sein marodes Haus herunterschauen.
Und was er da sah, gefiel ihm nicht. Wu schien bereits ein mittelgrosses Feuer im Stall
zu machen. Er fluchte über den Jungen und spie aus, sagte sich dann aber, gut,
ich habe meine Ziege mit mir, was will ich noch an diesem Ort,
dies ist die längste Zeit meine Heimat gewesen, besser, ich lasse alles ganz zurück,
dann hält mich auch nichts mehr zurück. Und er wendete sich ab.

Er erblickte die Weite des Landes. Noch nie zuvor hatte er den Berggipfel erklommen.
Warum war ihm das bloss noch nie zuvor in den Sinn gekommen, dachte er. Hier oben
war es so schön. Mein Dorf war meine Welt gewesen, das muss der Grund gewesen sein,
dachte er. Die Menschen, die Tee-Terassen, die wilden Bäume im Wald, das kleine Teehaus,
sein Pressstein.

Nebelverhangene Wipfel und Bergwald-Landschaften soweit sein Auge sehen konnte.
In dieser Richtung muss Burma liegen, dachte er, und er ging voran, leise ein altes Lied
aus seiner Jugend summend.

Zum ersten Mal überfielen ihn Sorgen, ob er wohlbehalten ankommen werde.
An das hatte er noch nicht einmal gedacht gehabt. Zu sehr hatte ihn der Westen
angezogen, und dass es dort Menschen geben soll, die so anders waren, als was
er es früher immer von anderen gelehrt bekommen hatte. Und er dachte daran,
dass seine Reise wohl eine Fügung war, von langer Hand geplant, denn auf einer
alten Karte, die er noch am Vortag in seinem Schuppen gefunden hat, bemerkte er
mit Erstaunen, dass er eine fast gänzlich gerade Linie des Weges vor sich hatte.
Überall schien das Meer von seinem Weg gewichen zu sein, und Land seinem Fuss
den Weg gebahnt zu haben. Nur Berge gab es in einer Unzahl, die sich vor ihm auftürmten,
aber das Gebirge war ihm nur allzu gut vertraut, ausserdem hatte er seine Ziege mit dabei -
gemeinsam würden sie es schon schaffen.

Die Reise sollte ihn in den ersten Abschnitten nach Burma über Assam, Bhutan, Tibet,
Sikkim und Nepal führen, wonach er einen kleinen Abstecher zu einem alten Freund in
Neu Delhi vorhatte. Er dachte, die Stadt sei schon nicht allzu gross, so dass er ihn
bestimmt einfach finden werde, sollte er doch geradezu eine Berühmtheit sein, da er, dank
seiner Maotai Festigkeit, jeden Inder unter den Tisch saufen täte, und das als Chinese.
Für ihn alleine müsse der lokale Krämer vom Schnaps alljährlich eine ganze Palette
importieren. So erzählte zumindest die Karte, die Wong von seinem alten Schulfreund
erhalten hatte, nachdem dieser in den Ruhestand eingetreten war, und sich häuslich
niedergelassen hatte.

Wong war endlich auf dem Weg.




Ein Foto von Cha-Shifu, welches ihm während dem Lesen des 2. Kapitels in den Sinn kam (aufgenommen in Jingmai)



3. Kapitel: Über sechs Berge musst du geh'n, um die Wege des Pu'Er zu versteh'n

To be continued!

1 Kommentar:

  1. Gibts eine Fortsetzung, die ich nicht gefunden hab? Der Cliffhanger am Ende macht Lust auf mehr...

    Grüße, Samer

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